Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 17: Tasukete – Hilfe ---------------------------- Uruha:   In meinem Bauch rumort und zwickt es, wie seit Tagen. Meine Unterlippe zuckt in Unbehagen, aber weiter lasse ich mir nichts anmerken, als ich der jungen Frau vor mir mit einer Handbewegung zeige, wo sich die Selbsthilfebücher befinden. Selbsthilfe, die könnte ich auch gut gebrauchen. Ein Buch mit dem Titel »Wie sage ich es ihm?« oder »Beichten für Anfänger« würde es fürs Erste tun. Kai kommt hinter den Tresen, gut gelaunt wie immer, und als er fragt, wie es mir geht, muss ich mich zusammenreißen, ihn nicht anzublaffen oder wahlweise in Tränen auszubrechen.   „Bescheiden“, nuschle ich als Antwort und hätte es besser wissen müssen, als ehrlich zu sein. Denn natürlich ruhen nun seine mitfühlenden Augen auf mir und sein beinahe väterlich anmutender Gesichtsausdruck macht es mir schwer, ihm nicht sofort alles zu beichten, was so bleiern auf meiner Seele lastet. Wie schafft er das nur immer? Er ist jünger als ich. Und warum habe ich nicht den Mund gehalten, wie ich es die letzten Tage über getan habe? Ich seufze abgrundtief und lasse die Schultern hängen. Vermutlich, weil ich nicht mehr kann. Weil ich mich bereits mehrmals dabei ertappt habe, Aois Nummer zu wählen, nur um kurz vor dem Verbindungsaufbau wieder aufzulegen. Ich bin so ein verfluchter Feigling.   „Was ist denn los?“, fragt Kai nun und ich ergebe mich meinem Schicksal, ohne überhaupt den Kampf gegen seine Fürsorglichkeit begonnen zu haben. „Hast du schlecht geschlafen? Deine Augenringe sieht man sogar durch den Concealer hindurch.“   „Mit so einer Aussage gewinnst du keinen Blumentopf, das ist dir hoffentlich bewusst.“   „Ich bin nur ehrlich.“ Kai lacht leise, dreht sich zur Kaffeemaschine um und lässt unter Dampfen und Zischen eine Portion Cappuccino in eine Tasse laufen. Das kräftige Aroma des Kaffees bestätigt mich darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, als ich vor einigen Monaten in diesen sündhaft teuren Vollautomaten investiert habe. Vor allem, als Kai mir die Tasse unter die Nase hält – mein Held.   „Danke.“   „Gerne, aber jetzt sag mir, was dich bedrückt. Du bist schon seit Tagen so niedergeschlagen und wortkarg. Nicht, dass du jemals viel reden würdest oder wie das blühende Leben durch den Laden tanzt, wie Ruki, aber … nun ja, es fällt auf, dass etwas mit dir nicht stimmt.“   Während Kais Redeschwall sind meine Augenbrauen immer höher gewandert, bis sie nun unter meinem überlangen Pony verschwunden sein müssen. Mein Freund ringt die Hände, als wäre es nun mein fragender Blick, der ihn verunsichert. Seine Besorgnis muss schon länger in ihm gebrodelt haben, anders kann ich mir seinen Ausbruch nicht erklären.   „Ich glaube …“, beginne ich und unterbreche mich sogleich, weil ich keine Ahnung habe, wie ich ihm erklären soll, was mich beschäftigt. Sollte ich nicht lieber mit Aoi über diese Sache sprechen? Ja, natürlich sollte ich das, aber genau das ist das Problem. „Ich habe Mist gebaut und weiß nun nicht, wie ich alles wieder geraderücken kann.“   „Oh.“ Kai sieht mich mitfühlend an und wäre ich Ruki, hätte er mich in die Arme genommen. So verschränkt er nur die Hände hinter dem Rücken ineinander und wippt nachdenklich von den Zehenballen auf die Fersen und wieder zurück. „Meistens ist es das Beste, wenn man über seinen Schatten springt und sich erklärt. Entweder es geht gut oder nicht, aber wenigstens nagt dann die Unsicherheit nicht mehr an einem.“ Das … ist ein erstaunlich sinnvoller Rat, das muss ich ihm lassen, auch wenn ich mich nun kein Stück besser fühle.   „Aber ich hab Angst“, flüstere ich und habe keine Ahnung, warum ich nicht endlich die Klappe halte. „Was ist, wenn ich schon zu lange gewartet habe, wenn er mich gar nicht mehr sehen will?“   „Nun ja, wenn dem so ist, hast du nach einem Gespräch wenigstens Gewissheit.“ Kais Lächeln ist weitaus weniger atomar, wie ich es sonst von ihm gewöhnt bin, und in seinen Augen schimmert das Mitgefühl noch deutlicher. „Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber wir sprechen von Aoi, oder?“   „Woher weißt du das?“   „Seit unserem Kinobesuch bist du so verschlossen und er war seitdem nicht mehr hier. Ich hab nur eins und eins zusammengezählt.“ Ich nicke geschlagen und spüre, wie sich meine Schultern runden, als könnte ich mich so vor Kai und der gesamten Welt verstecken. „Komm schon, Uruha, Kopf hoch. Ich bin mir sicher, egal was zwischen euch vorgefallen ist, es wird dir besser gehen, wenn du mit ihm geredet hast. Aoi kommt mir nicht wie der nachtragende Typ vor. Sicher wartet er darauf, dass du dich bei ihm meldest.“   „Wenn dem so ist, warum hat er dann nicht schon längst angerufen?“   „Wollte er das denn tun?“   „Ja …“ Ich hole Luft, um weiterzusprechen, als mir meine eigenen Worte von vor ein paar Tagen wieder in den Sinn kommen. „Nein, ich meine, er wollte, aber …“   „Aber?“   „Ich habe gesagt, ich würde mich melden.“   „Siehst du, dann tu das auch. Spring über deinen Schatten und sei mutig.“   Bevor ich noch etwas auf Kais ermunternde Worte sagen kann, kommt eine Gruppe Schulmädchen in den Laden und wir sind die nächste halbe Stunde damit beschäftigt, Lehrbücher herauszusuchen und abzukassieren. Kai verabschiedet sich um die Mittagszeit, weil er am frühen Nachmittag eine Vorlesung hat, und lässt mich allein. Allein mit meinen Gedanken, die ich träge in meinem Gehirn hin und her wälze.   ‚Sei mutig.‘ ‚Spring über deinen Schatten.‘   Seine Worte kreisen und kreisen in meinem Schädel, bis mir schwindlig wird. Mein Puls beschleunigt sich, als ich nach meinem Smartphone greife und eine mittlerweile viel zu vertraute Nummer wähle. Es klingelt, der Verbindungston schrillt in meinen Ohren, wieder und wieder … aber Aoi hebt nicht ab. Niedergeschlagen lasse ich das Telefon sinken und mich gleich mit auf den Stuhl, der vor dem PC im Büro steht. Und jetzt? Warum hat mir Kai nicht gesagt, was ich tun soll, wenn mich mutig sein und über meinen Schatten springen nicht weiterbringen? Ich sehe auf die Uhr; noch sechs Stunden, bis ich den Laden schließen kann, noch ein paar Minuten, bis Rukis Schicht beginnt.   „Ich sollte einfach zu ihm fahren“, murmle ich und streiche mir durchs Haar. „Schließlich muss er mit mir reden, wenn ich vor seiner Tür stehe, oder?“ Meine Unterlippe schmerzt, als ich meine Zähne zu fest in sie grabe und das Stechen lässt mich zusammenfahren. Meine Güte, nun rede ich schon mit mir selbst.   „Also ich für meinen Teil bin sehr dafür, dass du zu ihm fährst. Das Zusammenzucken eben ist nichts gegen den Schock, der mir in dem Moment durch die Glieder jagt, als jemand unerlaubterweise das Büro betritt.   „Reita! Was machst du hier?“, fauche ich heiser und so außer Atem, als hätte ich einen Marathon absolviert. Ich funkle ihn an, was jedoch keinerlei Wirkung auf ihn hat. Lässig lehnt er im Türrahmen, eine Hand in der Tasche seiner Lederjacke vergraben und lächelt mich schief an.   „Ich will ein Buch kaufen“, sagt er und sein Gesichtsausdruck ist so unverschämt, dass mein Blut, welches eben noch in meinen Adern gefroren ist, sogleich zu kochen beginnt. Was bildet der sich überhaupt ein? „Oder stehen die Bücher hier nicht zum Verkauf?“ Demonstrativ hält er einen dicken Wälzer hoch, der sich bei genauerer Betrachtung als J. R. R. Tolkiens »Der Hobbit« entpuppt. Ich bin so perplex von seinem Auftreten, seiner Präsenz und schlicht von seiner Person, dass mir jede Entgegnung im Hals stecken bleibt. Wie schafft er das nur immer? „Cat got your tongue?“   „Ehm, was?“   „Ob es dir die Sprache verschlagen hat.“   „N- nein.“ Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen steigt, und beeile mich, meine Haare unauffällig über meine linke Gesichtsseite zu streichen. „Außerdem habe ich dich zuerst etwas gefragt. Kunden ist es nicht gestattet, einfach so ins Büro zu spazieren. Hast du das Schild an der Tür nicht gelesen?“ Betont langsam dreht Reita den Kopf, bis er die deutlich sichtbare Beschriftung auf dem Holz gar nicht übersehen kann.   „Ach, sieh einer an.“, sagt er übertrieben erstaunt und zuckt so nonchalant mit den Schultern, dass mir ein heißer Blitz direkt in den Magen fährt. Ungläubig blinzle ich ob seiner – und meiner eigenen – recht unpassenden Reaktion und stehe auf. Mit Schritten, die zielstrebiger sind, als ich mich fühle, gehe ich auf ihn zu.   „Würdest du mich bitte durchlassen?“, murre ich, all meiner professionellen Höflichkeit beraubt, und lege meine Hand an seine Schulter, um ihn aus dem Türrahmen zu schieben. Ein Felsbrocken ließe sich leichter bewegen, stelle ich im selben Moment fest, als mir ein unglaublich angenehmer, warm-würziger Duft in die Nase steigt. Ist das Reitas Parfum? Seine Finger umschließen die meinen, ziehen sie von seiner Schulter weg und mich willenlos hinter sich her, als er zurück in den Verkaufsraum geht. Irgendetwas stimmt mit meiner Wahrnehmung nicht, alles zieht in Zeitlupe vor meinen Augen dahin, während ich in einer Wolke aus Verwirrung treibe.   „Und? Was hältst du von meinem Vorschlag?“   Seine Stimme reißt mich aus dem entrückten Zustand, in den mich seine unerwartete Anwesenheit und die damit verbundene Überforderung getrieben haben. Blinzelnd versuche ich, mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich stehe hinter der Kasse, Reita brav davor und eine Hand liegt auf dem Buch, das er nun über die Theke schiebt. Wann hat er meine Hand losgelassen? Und, viel wichtiger, wie bin ich hinter die Kassen gekommen? Hilfe.   „Entschuldige, ich … ehm.“ Unangenehm berührt reibe ich mir über den Nacken, greife nach dem Buch und scanne es ein. „Ich hab nicht ganz mitbekommen, was du gesagt hast. Das macht elftausendfünfhundert Yen.“ Reita zückt sein Portemonnaie, ohne seinen leicht spöttisch gewordenen Blick von mir zu nehmen.   „Hier. Der Rest ist für die Kaffeekasse.“ Dieses süffisante Grinsen gehört verboten oder ihm wahlweise aus dem Gesicht gewischt, stelle ich zähneknirschend fest, während ich den korrekten Betrag in die Kasse sortiere und die fünfhundert Yen Trinkgeld in unserer Spardose verstaue. „Ich wollte wissen, ob ich dich gleich mitnehmen soll?“   „Mitnehmen?“   „Ja, mit nach Hause zu Aoi.“   „Ich …“ Mein Magen fühlt sich an, als hätte ich einen riesigen Stein verschluckt, obwohl mir noch vor meiner Frage bewusst gewesen ist, was Reita gemeint hat. Warum ich dennoch so dumm nachgefragt habe? Keine Ahnung, vermutlich ein Reflex. Genauso ein Reflex, wie der, dass mir der Mund leicht offen steht und mir keine Erwiderung einfällt. Die Fähigkeit, anständige Konversation zu betreiben, hat mich verlassen und blanke Panik schnürt mir die Kehle zu.   „Uruha.“ Reitas Stimme ist leise und ganz sanft, genau wie seine Hand, die mit einem Mal wieder auf der meinen ruht. „Glaub mir, normalerweise würde ich mich nie einmischen, aber ich halte es nicht mehr aus, Aoi so zu sehen.“ Er seufzt und sein Daumen streicht so vorsichtig, als wäre ich aus fragilem Glas gemacht, über meine Haut. Fragil, ja genauso fühle ich mich und vollkommen überfordert obendrein. „Und wenn ich mir dich so ansehe, geht es dir auch nicht gut, mh?“   Ich senke den Blick, betrachte Reitas gebräunte Hand, die auf meiner Blassen liegt und einen sonderbar passenden Kontrast bildet. Eben noch hat mich dieser Kerl schier auf die Palme gebracht und nun muss ich den Drang unterdrücken, meine Hand zu drehen, um die seine umschließen zu können. Dieser Impuls ist neu und ist es doch nicht. Aoi und Reita dominieren meine Gedanken, seit ich von ihrer speziellen Freundschaft zueinander weiß. Dass ich Reita attraktiv finde, musste ich mir bereits nach unserem ersten aufeinandertreffen eingestehen und je öfter ich ihn sehe, desto deutlicher kann ich dieses andere, leisere Gefühl in mir wahrnehmen – Zuneigung.. Ich kann nicht mehr leugnen, dass ich mich zu beiden Männern auf ähnliche Weise hingezogen fühle, so sehr ich es auch versuche. Meine Gefühle machen mir Angst. Die Entscheidung, die ich zu treffen habe, macht mir Angst. Ich fühle mich gierig, weil ich sie beide will, fühle mich zerrissen, weil ich fürchte, dass diese Empfindung nicht auf Gegenseitigkeit beruhen wird. Nicht bei Reita und womöglich auch nicht mehr bei Aoi, wenn er erst begreift, was ich getan habe. Wieder meldet sich mein schlechtes Gewissen. Reita ist hier, weil es Aoi nicht gut geht, und ich weiß, dass das meine Schuld ist. Wie sehr wünsche ich mir, ihn vor Tagen nicht unwissend zurückgelassen zu haben, oder wenigstens mutig genug gewesen zu sein, um mich längst bei ihm gemeldet zu haben. Ich schnaube innerlich und entziehe mich Reitas viel zu angenehmer Berührung. Jegliche Überlegungen in diese oder eine andere Richtung sind müßig, solange ich mich nicht wieder einkriege und herumstehe wie eine Salzsäule.   „Was hat mich verraten? Die sexy Augenringe oder das attraktive Zittern meiner Finger.“ Holla die Waldfee, seit wann bin ich so schlagfertig? Ich lehne mich mit der Hüfte seitlich gegen die Kante der Theke, zaubere ein kokettes Lächeln auf meine Lippen und hoffe, er merkt nicht, wie überrascht ich von mir selbst bin.   „Mh, ich für meinen Teil finde deine fahle Gesichtsfarbe überaus anziehend“, entgegnet er, ein Lachen in der Stimme, und ich fühle, wie sich mein Inneres in zähes Karamell verwandelt. Nun ist es amtlich, ich bin ein hoffnungsloser Fall und mit Reita zu flirten, sollte sich nicht so gut und richtig anfühlen. Nicht, wenn da noch Aoi ist, dem ich unrechtgetan habe und bei dem ich mich dringend entschuldigen muss. Wenn ich nur nicht so große Angst vor einer Zurückweisung hätte. Ich schüttle den Kopf, vertreibe diese Gedanken, die das Potenzial in sich tragen, mich in eine Abwärtsspirale aus Panik und Selbstvorwürfen zu stürzen. Allen Mut zusammenkratzend sehe ich auf und Reita in die Augen.   „Mir ist schmerzlich bewusst, dass ich Aoi verletzt habe. Zum einen mit meinem abrupten Abgang und zum anderen, weil ich mich seither nicht mehr bei ihm gemeldet habe.“   „Und was hindert dich daran, die Sache nun wieder geradezurücken?“   „Ich hab Angst. Was ist, wenn ich ehrlich zu ihm bin und damit alles nur noch schlimmer mache?“   „“Ich weiß nicht, worum es dir geht, was dich dazu gebracht hat, überhaupt erst die Flucht zu ergreifen …“ Beim Wort Flucht zucke ich zusammen. So ein harscher Ausdruck und doch beschreibt er genau das, was ich getan habe. „Aber Aoi war ehrlich zu dir, nicht wahr? Er hat dir von uns beiden erzählt, damit du weißt, worauf du dich einlässt, obwohl er ebenso gefürchtet hat, dass du das nicht verstehen und ihn deswegen fallenlassen würdest. Stimmt doch, oder?“ Reita sieht mich fragend an und ich beeile mich, zu nicken. „Dann hat er es verdient, dass auch du ehrlich zu ihm bist, egal, was du denkst, dass zwischen euch steht.“   „Ich verstehe dich nicht“, platzt es aus mir heraus, aber ich kann die Frage nicht mehr länger in mir verborgen halten. Ich muss es wissen, muss mehr über Reita und seine Beweggründe erfahren, bevor ich mich Aoi und meinem Geständnis stellen kann.   „Was meinst du?“ Reitas Blick ist verwirrt, was ich ihm nicht verübeln kann, und ich zwinge mir ein schmales Lächeln auf die Lippen.   „Warum ermunterst du mich, mit Aoi zu reden? Müsste es nicht vielmehr in deinem Interesse sein, dass er mich so schnell wie möglich wieder vergisst?“ Ohne, dass ich es will, werden meine Augen feucht, allein bei dem Gedanken, Aoi nie wieder nahe sein zu können, weil ich zu feige war, ehrlich zu ihm zu sein. Habe ich meine Chance bei ihm verspielt? Und wie soll ich es erst ertragen, auch Reita nicht mehr zu sehen? Wenn die beiden Männer aus meinem Leben verschwinden, dann … dann …   „Ach Uruha.“ Reita schüttelt den Kopf und sein Lächeln ist so herzlich, dass ich für einen Moment Probleme habe, den oft so irritierenden Kerl, der eben erst unerlaubt in mein Büro spaziert ist, mit dem Mann in Einklang zu bringen, der nun vor mir steht. „Es ist unübersehbar, wie gut du Aoi tust, wie gut ihr euch beide tut. Ihn an dem Abend unseres Kinobesuchs so glücklich und gelöst zu sehen, hat auch mir unheimlich viel gegeben, glaub mir. Ich würde seinem Glück nie im Weg stehen und dasselbe gilt für ihn. Darum musst du keine Angst haben, dass du dich zwischen Aoi und mich drängst, oder was auch immer gerade in deinem hübschen Köpfchen vor sich geht.“ Bei der Bezeichnung hübsch laufe ich knallrot an, was den verständnisvollen Ausdruck von Reitas Gesicht fegt und einem selbstzufrieden überheblichen Grinsen Platz macht. „Ich weiß, was ich an ihm habe und ich weiß auch, dass nie jemand meinen Platz in seinem Herzen einnehmen wird.“ Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, ohne dass mir ein Laut entkommt. Was könnte ich auch sagen, das deutlich macht, wie nah mir seine Worte gehen, wie sehr ich mir in diesem Augenblick wünsche, ein Teil dieser innigen Zuneigung zu sein, die in seinen Augen steht, sobald er über Aoi spricht. „Sein Herz ist groß genug für uns beide“, setzt Reita bedeutungsschwanger hinterher und nimmt für keine Sekunde den Blick von mir. „Und, wenn du mir diese saloppe Ausdrucksweise verzeihst, ich hätte hier auch noch ein Plätzchen frei.“   Er deutet mit dem Daumen auf seine Brust, genau über seinem Herzen, und in meinen Ohren beginnt es zu Rauschen. Ich habe vergessen, wie man atmet, wie man blinzelt oder generell, wie man sich bewegt. Bedeutet das wirklich das, was ich denke? Meint Reita seine Worte so, wie ich sie verstehe, oder interpretiere ich zu viel in sie hinein? Meine Handflächen schwitzen und ein feines Zittern fährt mir durch die Glieder. Den Großteil meines erwachsenen Lebens habe ich versucht, meine Mitmenschen auf Abstand zu halten, aus Angst, sie würden mich verletzen. Zu viele schlechte Erfahrungen habe ich in der Vergangenheit machen müssen, zu schmerzhaft waren die Zurückweisungen, die ich ertragen musste. Meine Narbe beginnt zu kribbeln und ich muss den Drang unterdrücken, über sie zu kratzen. Er hat noch nicht gesehen, welche Hässlichkeit ich vor ihm, vor der Welt verberge. Wären seine Worte ebenso selbstsicher, wüsste er Bescheid? Ein großer Teil in mir will hoffen, will glauben, dass Reita anders ist, meine Furcht hält dagegen, will sich zurückziehen, auf Abstand gehen. Ich suche seine Augen, finde sie, halte mich an ihnen fest. Sein Blick ist offen, birgt eine Wärme, die mich einhüllt, meinen rasenden Herzschlag beruhigt. Da steht er also, mit sprichwörtlich geöffneten Armen, und präsentiert mir eine Chance auf dem Silbertablett, von der ich nie zu träumen gewagt habe. Dennoch bringe ich es nicht über mich, weiter nachzuhaken, obwohl alles in mir danach schreit, Gewissheit zu brauchen.   „You look so beautiful, when you’re smiling.“ Unwillkürlich fasse ich mir an die Lippen und fühle ein Lächeln dort. Nicht zu fassen. Reita sieht aus, wie die Katze, die den sprichwörtlichen Kanarienvogel gefressen hat. Argh! Ein kleiner Teil in mir will sich empören. Was fällt ihm ein, mich so anzusehen, mir so schöne Worte zu sagen, nachdem er eine solche Bombe hat platzen lassen? Der weitaus größere Teil will ihm am liebsten um den Hals fallen. Reita mag irritierend sein, überheblich und im Besitz eines viel zu großen Egos, aber er weiß mit schlafwandlerischer Sicherheit, was er sagen muss, um den Sturm der widersprüchlichen Emotionen in meinem Inneren langsam abebben zu lassen.   Das muntere Klingeln des Glöckchens über der Eingangstür reißt mich aus meiner Erstarrung und schiebt die Entscheidung auf, wie ich nun auf sein Geständnis reagieren soll. Ruki kommt in den Laden gefegt, wie der zu kurz geratene Wirbelwind, der er ist, und spricht Worte aus, die mir nur allzu bekannt sind.   „Sorry, bin zu spät, kommt nicht wieder vor.“   Reita lacht und winkt ihm zu, ich schüttele den Kopf, um Selbigen wieder freizubekommen. Dieses Verhalten ist so typisch für Ruki und ich weiß jetzt schon, dass er auch morgen einige Minuten zu spät kommen wird. Das ist und bleibt seine Art, egal wie oft er mir versichert, sich bessern zu wollen. Ich schmunzele. Wenn ich ehrlich bin, will ich ihn gar nicht anders haben.   „Kein Problem“, versichere ich ihm, nicht ohne Hintergedanken, wie er keine Sekunde später feststellen muss. „Dir macht es sicher nichts aus, für ein paar Stunden allein im Laden zu sein, oder? Nachmittags ist ohnehin nie viel los und ich bin spätestens um fünf wieder zurück.“   „Ach wieso denn? Wo musst du denn hin?“ Tja, das wüsste er wohl gerne. Ich spüre, wie sich das Schmunzeln auf meinen Lippen zu einem ausgewachsenen Grinsen ausweiten will, verkneife es mir jedoch.   „Reita und ich haben etwas zu erledigen.“ Ich schenke Reita einen vielsagenden Blick, den er wiederum mit genau dem wissenden Grinsen erwidert, das ich eben so erfolgreich unterdrückt habe.   „U~und das wäre?“ Die Augen des kleinen Mannes sind kugelrund und die Neugierde steht ihm quer übers Gesicht geschrieben.   „Du musst nicht alles wissen, Ruki“, sage ich streng, gehe ins Büro, um mir meinen Mantel anzuziehen und die Tasche umzuhängen, und kehre in den Verkaufsraum zurück. Das Bild, welches sich mir bietet, ist göttlich. Ruki starrt Reita an, als könnte er dem offensichtlichen Rätsel unseres Vorhabens durch seine Schädeldecke hindurch auf den Grund gehen, wohingegen so Angestarrter nur lässig durch sein neu erworbenes Buch blättert. „Fertig“, verkünde ich und schenke Ruki noch ein ehrlich dankbares Lächeln. „Auf dem Rückweg bringe ich Muffins mit, okay?“   „Die mit dreifach Schokolade von der neuen Bäckerei am Bahnhof?“   „Genau die.“   Ruki strahlt und scheint für den Moment selbst seine Neugierde vergessen zu haben. Erstaunlich, was die Aussicht auf eine süße Leckerei für eine Wirkung auf ihn hat. Ich beeile mich, hinter Reita den Laden zu verlassen, bevor ich mich doch noch der Inquisition gegenübersehe. Wie automatisch laufe ich dem blonden Mann hinterher. Er ist nur geringfügig kleiner als ich, stelle ich gerade zum ersten Mal fest, und ein warmes Gefühl überkommt mich, über das ich im Moment nicht so genau nachdenken kann. In mir stapeln sich die Emotionen und purzeln die Gedanken so wild durcheinander, dass mir schwindlig wird, wenn ich mich zu lange auf einen von ihnen konzentriere.   Anders, als vermutet, schlägt Reita nicht den Weg zum Bahnhof ein, sondern führt mich eine Seitenstraße entlang, in der er wenige Schritte später vor einem schicken roten Flitzer zum Stehen kommt. Mir hätte klar sein müssen, dass ein Bike-Enthusiast, wie Reita einer ist, selbst im Winter nicht auf ein angemessen stilvolles Beförderungsmittel verzichtet. Öffentliche Verkehrsmittel sind etwas für Büroangestellte, Schüler und Leute wie mich, die von einem Auto wie diesem nur träumen können. Reita hat die Geschwindigkeit im Blut, das konnte ich schon bei unserer ersten Fachsimpelei über Motorräder spüren.   „Schönes Auto“, murmle ich und widerstehe dem Drang, über den glänzenden und blitzsauberen Lack zu streichen. „Ein Honda NSX, oder?“   „Jepp, ein Original aus den 90ern. Die Lady hat schon einige Jahre auf dem Buckel, aber nichts von ihrem Feuer verloren, wenn du verstehst, was ich meine.“   Reitas Worte bescheren mir ein heißes Ziehen in der Magengegend. Verflucht. Ich sollte die Art, wie er über diese Schönheit eines Autos spricht, nicht so anziehend finden. Mit einem anzüglichen Lächeln auf den Lippen, als hätte er haargenau mitbekommen, wie ich auf ihn reagiere, schließt er den Wagen auf und bedeutet mir mit einer Handbewegung, einzusteigen.   „Reita, ich …“, beginne ich, ohne genau zu wissen, was ich sagen will. Sein Geständnis kreist in meinem Kopf, wie ein Karussell, schneller und schneller. ‚Ich hätte hier auch noch ein Plätzchen frei.‘ „Bitte entschuldige, dass ich noch nicht darauf reagiert habe, was du vorhin zu mir gesagt hast, aber ich … Das mit Aoi … Ich weiß einfach nicht …“ Mit einem Mal liegt seine Hand auf meiner Schulter, warm, erdend und das Verständnis in seinem Blick gibt mir den Halt, den ich zu verlieren drohe.   „I’m a patient man, Uruha.“   Ich weiß nicht, ob es seine anhaltende Nähe ist oder die englischen Worte, die in einem tiefen Brummen über seine Lippen gekommen sind, aber plötzlich bedeckt eine Gänsehaut meinen gesamten Körper. Gerade so schaffe ich es, nicht zu erschauern, wohlig die Augen zu schließen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich längst entschieden und es würde mich nicht wundern, wenn Reita dies bereits vor mir wusste. Einen langen Moment sehe ich ihm in die Augen, will so viel sagen, so viel tun, aber schlussendlich nicke ich nur und trete einen Schritt zurück.   „Danke“, wispere ich, umrunde den Wagen und greife nach dem Türöffner, ohne seiner Aufforderung sofort nachzukommen. Ich atme ein und wieder aus, ein und wieder aus. Aois Gesicht schiebt sich vor mein inneres Auge, erst lächelnd, mit einem liebevollen Glanz im Blick, dann verunsichert, ein verletzter Ausdruck auf den schönen Zügen. Mit Macht holen mich meine Unsicherheiten ein, als mir bewusst wird, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn ich erst in dieses Auto eingestiegen bin. Kann ich das wirklich? Will ich es überhaupt? Was, wenn ich ihm nun gegenübertrete, obwohl ich ihn längst verloren habe? Noch kann ich mich der Illusion hingeben, dass er mir meine Flucht nicht übel nimmt, mir meine Feigheit nicht vorhält. Noch kann ich von einem Happy End träumen, in dem mich Reitas starke Arme halten und Aoi mich ansieht, als wäre ich das Wertvollste auf der Welt. Ich kämpfe gegen den Kloß an, der sich in meiner Kehle breitmachen will.   „Alles okay?“ Reita hat es mir abgenommen, die Beifahrertür zu öffnen, und sieht mich vom Fahrersitz aus fragend an. Ich nicke und beiße mir auf die Innenseite meiner Unterlippe, um dem Ansturm meiner Ängste keinen Raum zu geben. Entschlossen schwinge ich mich ins Fahrzeug, ziehe die Tür mit einem Finalen Laut zu. Das Leder des Sitzes ist unverschämt weich und schmiegt sich an mich, als würde es mich umarmen wollen. Innerlich schnaube ich ob meiner Gedanken, äußerlich schließe ich lediglich für einen kurzen Moment die Augen, bevor ich mich soweit wieder gefasst habe, dass ich Reita auffordernd ansehen kann.   „Dann zeig mal, was das Baby so unter der Haube hat.“ Meine Worte klingen deutlich selbstbewusster, als ich mich fühle, aber was soll es schon? Reita grinst mich an, startet den röhrenden Motor und fädelt sich souverän in den Großstadtverkehr ein. Ich kann mutig sein, will mutig sein, weil Aoi es verdient hat, dass ich endlich ehrlich zu ihm bin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)